Es war nasse und kalte Nacht. Zwischen zwei Mülltonnen sass eine getigerte Katze und starrte auf die Strasse. Es war still. Kein Auto fuhr vorbei, kein Mensch war zu sehen.
Die Katze hiess Snu - oder zumindest hatte sie so geheissen, bevor sie ihr Zuhause verloren hatte. Snu hatte einmal bei einer alten Dame gewohnt, in einem kleinen Haus am Stadtrand. Snu erinnerte sich gerne daran zurück, die weichen Kissen, die feinen Leckerli und die sanften Hände, die sie streichelten. Doch eines Tages war die alte Dame nicht mehr nach Hause gekommen. Fremde Menschen hatten das Haus leergeräumt. So war Snu allein zurückgeblieben. Sie hatte gewartet, Tage und Nächte lang, aber niemand war gekommen. Eines Tages hörte Snu die Schritte eines Menschen. Sie sprang auf und erwartete die sanfte Stimme der alten Dame. Doch es kam stattdessen ein seltsamer Mann in das Haus. Als er Snu erblickte, war er sehr verwirrt. „Weg mit dir, du Vieh!“, hatte er dann gerufen und mit einer herumliegenden Dose Snu rannte aus dem Haus. Snu war nicht mehr zurückgekommen, sie hatte Angst vor diesem Mann.
Seitdem streunte sie allein in der Stadt herum. Snu mochte die Stadt nicht. Sie war laut und fremd, überall lauerten Gefahren. Doch nur dort hatte Snu Chancen, an Futter zu kommen. Snu durchsuchte die Mülltonnen, denn sie getraute sich nicht, zu den Menschen zu gehen. Während Snu sich noch überlegte, wo sie morgen nach Futter suchen könnte, versank sie in einen tiefen Schlaf.
Ein Geräusch riss Snu aus dem Schlaf. Sie machte die Augen auf, streckte sich und spitzte die Ohren. Zuerst sah sie niemanden. Doch dann erblickte sie auf der anderen Strassenseite eine andere Katze. Sie hatte ein schwarzes Fell und leuchtend grüne Augen. Snu machte einen Schritt zurück und zog den Schwanz ein. Fremde Katzen waren nie gut. War es das der schwarzen Katze? Sie kam langsam auf sie zu. Snu wurde nervös und überlegte sich, was sie jetzt tun sollte. Wegrennen oder bleiben und sich verteidigen? Doch die schwarze Katze war schon fast bei ihr. Also versteckte sich Snu einfach hinter der Mülltonne, auch wenn sie wusste, dass es nichts bringen würde. Snu spähte ängstlich zwischen den Tonnen zur Katze. Aber die schwarze Katze fauchte nicht, sie schaute sie nur an. Dann miaute sie leise. Snu verstand, es war ein Ruf, doch bewegte sie sich nicht. Die schwarze Katze miaute noch einmal, dieses Mal lauter. Dann drehte sie sich um und ging langsam weg. Schon nach einigen Metern blieb sie stehen, drehte sich um und miaute nochmals. Genau dasselbe Miauen wie zuvor. Ein Ruf, mitzukommen. Snu quetschte sich durch die Mülltonnen und ging zögerlich auf das Trottoir. Snu wusste nicht, ob sie ihr trauen konnte. Snu wusste auch nicht, wohin sie ging. Doch Snu war viele Nächte allein gewesen. Zu viele. Vorsichtig setzte sie eine Pfote vor die andere, dann lief sie langsam los. Die schwarze Katze beobachtete sie still, dann drehte sie sich um und ging weiter. Snu folgte ihr mit einem Abstand von ein paar Metern. Die schwarze Katze führte sie durch ein Gewirr aus Hinterhöfen und Mauern, vorbei an schlafenden Fahrrädern und Müllsäcken. Schliesslich bog sie in ein halb geöffnetes Gartentor ein. Hinter dem Tor lag ein kleiner Hinterhof. Die Katze lief bis zu einer Türe, die in ein Haus führte und miaute laut. Die Tür ging auf und Licht fiel auf den Hof. Ein Mensch trat hinaus – eine junge Frau mit zerzausten Haaren und einem dicken Pullover. Sie hielt einen Teller in der Hand.
„Ah, du hast eine Freundin mitgebracht“, sagte sie sanft und stellte den Teller ab.
Ihre Stimme war ruhig, freundlich. Nicht wie die des Mannes mit dem Anzug. Sie erinnerte Snu an die Stimme der alten Frau. Der Teller war bis zum Rand voll mit frischem Futter. Snu schaute die schwarze Katze an. Sie legte den Kopf schief und schnurrte leise. Zusammen machten sie sich über das Essen her. Doch gerade als sie einen Bissen nehmen wollte, verschwand das Essen. Snu war verwirrt. Sie schaute die Katze an, doch auch die Katze war verschwunden. Und da wurde alles schwarz…
Snu öffnete die Augen. Sie sass zwischen zwei Mülltonnen. Es war still. Kein Auto fuhr vorbei, kein Mensch war zu sehen. Da hörte Snu ein Geräusch. Eine schwarze Katze lief auf sie zu.